Strawinsky

Strawinsky
Strawịnsky,
 
Igor Fjodorowitsch, russischer Komponist, * Oranienbaum (heute Lomonossow) 17. 6. 1882, ✝ New York 6. 4. 1971; lernte früh die Opern M. I. Glinkas und der russischen Schule kennen, studierte Jura und 1902-08 Komposition bei N. A. Rimskij-Korsakow und wurde schlagartig berühmt durch die Pariser Uraufführung seines Balletts »Der Feuervogel« (1910), eines Auftrags des Impresarios S. P. Diaghilew. Es folgten - ebenfalls für Paris - »Petruschka« (1911) und »Le sacre du printemps« (1913). Anknüpfend an die russische Schule wirkten diese Werke durch ihre emphatische Motivwiederholung, herbe Akkordik, fremdartige Instrumentenbehandlung, collageartige Schnitttechnik und (v. a. im »Sacre«) ihre orgiastisch entfesselte Rhythmik teilweise schockierend und revolutionär. 1914-20 (abschnittsweise schon ab 1910) lebte Strawinsky in der Schweiz. Die Werke dieser Zeit zeigen einen deutlich veränderten Stil. Namentlich das geniale Bühnenwerk »L'histoire du soldat« (»Die Geschichte vom Soldaten«, 1918, Text: C. F. Ramuz) reduziert Mittel und Formen (z. B. Choral, Marsch, Walzer, Tango), zum Teil unter Verwendung von Elementen des frühen Jazz. 1920 übersiedelte Strawinsky nach Frankreich und stand in lebhaftem Kontakt mit führenden Künstlern in Paris (C. Debussy, M. Ravel, E. Satie, P. Picasso, H. Matisse, A. Gide, J. Cocteau). Mit »Pulcinella« (1920, nach G. B. Pergolesi) beginnt die Phase des »Neoklassizismus«, in der Strawinsky musikalische Techniken der Vergangenheit verändert und verfremdet und mit charakteristisch Eigenem verbindet. Das Opern-Oratorium »Oedipus rex« (1927), das helle, maßvolle Ballett für Streicher »Apollon musagète« (1928), die strenge »Psalmensymphonie« für Chor und Orchester (1930) sowie eine Reihe von Instrumentalwerken, die barocke Form, Motorik und Klanglichkeit aufgreifen (z. B. Oktett für Bläser, 1922/23; Violinkonzert, 1931), gehören ebenso in diese Phase. Sie reicht bis zur Oper »The rake's progress« (1951), die virtuos mit Elementen der Buffo-Oper des 18. Jahrhunderts spielt. 1939 hielt Strawinsky von Cocteau beeinflusste Vorlesungen über »Musikalische Poetik« an der Harvard University. Er blieb in den USA und wurde 1945 amerikanischer Staatsbürger. In seiner Spätzeit vollzog er noch einmal eine Stilwandlung und bezog die von A. Schönberg und A. Webern entwickelte Zwölftontechnik in seine Werke ein, allerdings wieder im Dienst einer ganz eigenen, abgeklärten Ausdrucksintention, die die vorwiegend geistlichen Werke dieser Zeit prägt (u. a. »Canticum sacrum«, 1955; »Threni«, 1957/58; »The flood«, 1962).
 
Strawinsky hat, wohl gerade wegen seiner faszinierenden Individualität und Vielseitigkeit, andere Komponisten unmittelbar kaum beeinflusst und keine »Schule« gebildet. Bestechend an ihm sind der charakteristische und trotz eminenter Stilwandlungen überall spürbare Ton seines personalen Idioms, die virtuose Verfügung über alle Formen und Satztechniken der Vergangenheit und Gegenwart und die weite Skala des Ausdrucks, die von sprühendem Witz und geistreicher Ironie bis zu heroischer Archaik, bewegendem Ernst und tiefer Religiosität reicht. Wesentliche Kompositionsmittel, die jedoch von Werk zu Werk kaum systematisierbar variieren, sind eine hervorstechende asymmetrische Rhythmik, eine kurzgliedrige, formelhaft kreisende Melodik, eine nicht mehr leittönig funktionale (sondern z. B. modale oder bitonale), aber im Kern tonal zentrierte Harmonik und eine versatzstückartig reihende Formgestaltung. Der in alledem wirksame ästhetische Impuls ist ein zugleich rationaler und leidenschaftlicher Ordnungswille und eine dezidierte, insbesondere gegen die Musik R. Wagners gerichtete Antiromantik im Sinne einer von französischer und russischer Kunstphilosophie inspirierten klassizistischen Objektivität, Modernität und Sachlichkeit.
 
Werke: Bühnenwerke: L'oiseau de feu (deutsch »Feuervogel«, Ballett, 1910, revidiert 1945; daraus Suite, 1911 und 1919); Pétrouchka (deutsch »Petruschka«, Ballett, 1911, revidiert 1946); Le sacre du printemps (Ballett, 1913, revidiert 1922 und 1947); Le rossignol (lyrisches Märchen, 1914, revidiert 1962); Le chant du rossignol (sinfonische Dichtung, 1917; Ballett, 1920); Renard (Ballett-Burleske, 1922); L'histoire du soldat (deutsch »Die Geschichte vom Soldaten«, 1918; daraus Suite 1919 und 1920); Pulcinella (Ballett, Musik nach G. B. Pergolesi, 1920, revidiert 1965; Suite 1922, revidiert 1947); Mavra (Opera buffa, 1922); Les noces (russische Tanzszenen, 1923); Oedipus rex (Opern-Oratorium, konzertant 1927, szenisch 1928, revidiert 1948); Apollon musagète (Ballett, 1928, revidiert 1947); Le baiser de la fée (Ballett, 1928, revidiert 1950); Perséphone (Melodrama, 1934, revidiert 1946); Jeu de cartes (Ballett, 1937); Orpheus (Ballett, 1948); The rake's progress (Oper, 1951); Agon (Ballett, 1957); The flood (musikalisches Spiel, 1962).
 
Orchesterwerke: Sinfonie Es-Dur (1905-07, revidiert 1907 und 1914); Scherzo fantastique (1907/08); Feu d'artifice (1908); Symphonies d'instruments à vent (1920, revidiert 1945-47); Concerto für Klavier und Blasorchester (1923/24, revidiert 1950); Capriccio für Klavier und Orchester (1928/29, revidiert 1949); »Concerto en ré« für Violine und Orchester (1931, mit S. Duschkin); Concerto in Es »Dumbarton Oaks« (1937/38); Symphony in C (1938-40); Danses concertantes (1941/42); Circus polka (1942); Symphony in three movements (1942-45); »Ebony Concerto« für Klarinette und Jazzband (1945, mit W. Herman); Concerto in D für Streichorchester »Basler Concerto« (1946); »Movements« für Klavier und Orchester (1958/59).
 
Kammermusik: »Trois pièces« für Streichquartett (1914); Rag-Time (1918); »Trois pièces« für Klarinette solo (1919); Concertino für Streichquartett (1920); Oktett für Bläser (1922/23, revidiert 1952); »Duo concertant« für Violine und Klavier (1931/32, mit Duschkin); Septett (1952/53).
 
Klavierwerke: Quatre études (1908); Trois pièces faciles (1914/15); »Cinq pièces faciles« für Klavier vierhändig (1916/17); Étude pour pianola (1917); Piano-Rag-Music (1919); Sonate (1924); Sérénade en la (1925); Concerto für zwei Klaviere (1931-35); Sonate für zwei Klaviere (1943/44).
 
Chorwerke: Symphonie de psaumes (1930, revidiert 1948); Messe (1944-48); Canticum sacrum (1955); Threni (1957/58); Kantate »A sermon, a narrative, and a prayer« (1960/61); Requiem canticles (1965/66).
 
Sologesänge: Three songs from W. Shakespeare (1953); In memoriam Dylan Thomas (1954); Abraham and Isaac (1962/63); Elegy for J. F. K. (1964).
 
Bearbeitungen: Choralvariationen über »Vom Himmel hoch« (J. S. Bach, 1955/56); Tres sacrae cantiones (C. Gesualdo, 1957-59); Monumentum pro Gesualdo di Venosa ad CD annum (1960).
 
Schriften: Chroniques de ma vie, 2 Bände (1935; deutsch Erinnerungen); Poétique musicale sous forme de six leçons (1942; deutsch Musikalische Poetik).
 
 
H. Strobel: I. S. (Zürich 1956);
 N. Jers: I. S.s späte Zwölftonwerke 1958-1966 (1976);
 T. Hirsbrunner: I. S. in Paris (1982);
 W. Dömling u. T. Hirsbrunner: Über S. Studien zu Ästhetik u. Kompositionstechnik (1985);
 M. Karallus: I. S. - der Übergang zur seriellen Kompositionstechnik (1986);
 W. Burde: S. Leben - Werke - Dokumente (31993);
 S. Walsh: The music of Stravinsky (Neuausg. Oxford 1993);
 H. Lindlar: Lübbes S.-Lex. (Neuausg. (1994);
 T. W. Adorno: Philosophie der neuen Musik (Neuausg. 71995);
 G. Schröder: Cadenza u. Concerto. Studien zu I. Strawinskijs Instrumentalismus um1920 (1996);
 W. Dömling: I. S. (71998).

Universal-Lexikon. 2012.

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